Fundamentalismus und unbegründete Ängste

In der Türkei wird diese Bewegung auf zweierlei Art und Weise wahrgenommen: als etwas, worauf man stolz sein kann, bzw. als etwas, was in jeder Hinsicht gefährlich ist. Diejenigen, die der zweiten Meinung zuneigen, sagen: „Alles ist schön und modern und scheint auf den ersten Blick demokratischen Maßstäben zu genügen, bei genauerem Hinschauen jedoch kommt eine islamische Republik zum Vorschein."

Der verstorbene [Parlamentarier] Aydin Bolak verglich die Charakteristika dieser Bewegung mit denen der Milli Mucadele [der Bewegung ,Nationaler Kampf' im türkischen Unabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg] . Zwar befindet sich die Türkei heute nicht in derselben Situation wie damals, aber wenn man sich die Anhänger dieser beiden Bewegungen anschaut, erkennt man sofort, dass es in beiden viele Freiwillige gab bzw. gibt. Ein Unterschied liegt darin, dass bei den Freiwilligen von heute die ganze Welt im Fokus steht; während des Unabhängigkeitskrieges kämpften wir nur für die Türkei.

In Bezug auf Aydin Bolaks Vergleich möchte ich an dieser Stelle noch etwas hinzufügen, was nicht direkt mit der Frage zu tun hat: Ich kann nicht nachvollziehen, warum die Parole „Euer erstes Ziel ist das Mittelmeer!, die im Unabhängigkeitskrieg ausgegeben worden war, immer wieder umgedeutet wird als: „Euer letztes Ziel ist das Mittelmeer!" Der Originalparole könnte doch auch ein „...und dann die Welt!" folgen, um ihr Wissenschaft und Gelehrsamkeit zu bringen, um ihr unsere Kultur bekannt zu machen und um unsere nationalen Errungenschaften mit der ganzen Welt zu teilen.

Politische und geographische Grenzen sind unantastbar. Es darf nicht unser Ziel sein, Territorien anderer Länder zu besetzen. Von einer großen Nation wird aber erwartet, dass sie der Welt ihre Kultur präsentiert und ihre positiven Seiten mit anderen Völkern teilt.

Was halten Sie denen entgegen, die Ihnen misstrauen?

Eine Randgruppe in der Türkei macht sich unnötige Sorgen, und entsprechend nimmt sie auch die Bewegung wahr. Mehr als alles andere bereitet diesen Leuten aber ihre eigene Situation Kopfzerbrechen. Sie fragen sich, was morgen sein wird. Aber morgen wird gar nichts passieren, morgen ist Mittwoch; dann kommen Donnerstag und Freitag, und nichts wird sich verändern.

Wenn diejenigen, die sich ein Urteil auf der Basis von Eventualitäten bilden, an pathetischen Seelenqualen leiden und auch wohltätige Dienste auf Grund dieser Eventualitäten ablehnen, dann gefährden sie damit nicht nur die Zukunft des türkischen Volkes, sondern die der ganzen Welt. Diese Freiwilligen haben der Welt schöne Dinge zu sagen, sie sollten nicht verurteilt werden. Vielleicht erheben ja auch einige das Wort und entgegnen jenen Skeptikern: „Wenn ihr diese Aktivitäten als Pan-Turkismus, Pan-Islamismus oder als Bemühungen zur Gründung einer religiösen Republik bezeichnet, weil ihr sie als mit dem türkischen Volk verbunden betrachtet oder glaubt, sie entsprängen der Religion, was haltet ihr dann denen entgegen, die ihrerseits euch beschuldigen, einer ,Republik des Unglaubens' oder einem ,Pan-Unglauben' Vorschub zu leisten?"

Diese Möglichkeit bestünde nämlich durchaus, und man könnte ihnen dies durchaus eines Tages einmal vorwerfen. Beispiele dafür gibt es genug auf der Welt. Urteile dürfen nicht auf der Grundlage von Eventualitäten gefällt werden. Es muss verhindert werden, dass die Welt in ein Chaos zurückfällt, das vom Unglauben und von der Gottlosigkeit herbeigeführt wird - so wie es im 2. Weltkrieg geschah.

Lassen Sie mich diesen Gedanken ein wenig ausführlicher erklären: Wenn es uns nicht gelingt, mit Hilfe unserer Freiwilligen Unterstützung von außen zu finden, wird die Türkei demnächst ganz allein in einer globalisierten Welt dastehen. Das Gleiche gilt nicht nur für die Türkei, sondern für alle Länder. Die Türkei ist auf die Unterstützung der Staaten von den asiatischen Steppen bis zum Fernen Osten angewiesen. In einer Abschlussfeier einer türkischen Schule in St. Petersburg fragte der Interviewer einen russischen Studenten: „Was wirst du als Erstes tun wenn du erwachsen bist und eine höhere Position erreicht hast?" Als ich den Jungen antworten hörte, er wolle dem türkischen Volk helfen, musste ich schluchzen. Man stelle sich einmal vor: So viele Menschen von Afrika bis nach Europa und vom Balkan vielleicht sogar bis nach Amerika, die voller Liebe zur Türkei aufwachsen! Sie alle mögen früher einmal eine andere Meinung über uns gehabt haben, aber das hat sich jetzt geändert.

Was bedeutet der Begriff Irtica (Fundamentalismus) für Sie?

Der Begriff Rückständigkeit ist eindeutig beleidigend. Aus diesem Grunde hat man für Fundamentalismus das arabische Äquivalent Irtica gewählt, was bedeutet: zurückkehren, die Menschen in die Vergangenheit zurückbringen. Rückständigkeit und Irtica tragen jedoch nicht exakt die gleiche Bedeutung. Die flektierte Verbform [des arabischen Substantivs] weist vielmehr darauf hin, dass die Handlung zu einer wesentlichen Eigenschaft des Handelnden geworden ist. Irtica bedeutet demnach, dass die Tatsache, dass ein Mensch alles dafür tut, seine Mitmenschen in die Vergangenheit zurückbringen, zur Natur dieses Menschen [der Fundamentalisten] wird.

Insofern wäre es falsch, dieses Wort mit dieser Bedeutung einem Menschen zuzuordnen, der sich zum Wohle des Islam engagiert. Die Gemeinschaft in der Moschee, die Anhänger der Sufitradition oder diejenigen, die im Gedenken an Gott in den Derwischorden wirken - sie alle widersetzen sich Wissenschaft und Technik keineswegs. Genauso wenig sperren sie sich gegen die Errungenschaften der Demokratie und der Republik; zumindest ist mir bislang niemand begegnet, der dies tun würde. Doch um die Menschen von ihnen fern zu halten, um die Muslime wie Dämonen erscheinen zu lassen und um sie zu besiegen, hat man ihnen Verbindungen angedichtet wie z.B. ,Unterstützer von diesem oder jenem' oder , Irticaci' [Fundamentalist].

Heißt das, Sie sagen, in der Türkei gäbe es keinen Irtica ?

Entschuldigen Sie, aber das ist doch pure Demagogie. In meiner Kindheit versuchte man uns Kinder mit unverständlichen Worten bange zu machen, die wie die Rufe von Geistern klangen: „Warmes Brot, frische Butter, komm und schütt es in seinen Hals." Die Erwachsenen versuchten uns Angst einzujagen, indem sie uns damit drohten, ein Teufel werde kommen. Um uns zu schützen, wickelten wir uns in unsere Decke ein. So wollte man uns zum Schlafen bringen. Erst sppäter wurde mir irgendwann klar, dass sie lediglich „warmes Brot, frische Butter" gesagt hatten. Allein dadurch, dass sie bestimmte Worte aussprachen, erzeugten sie in unseren Köpfen Furcht erregende Bilder.

Wer möchte die Menschheit tatsächlich ein oder zwei Jahrhunderte zurück befördern? Ich denke, die Muslime, und insbesondere die intellektuellen Muslime, haben eine wesentlich liberalere Vision vor Augen als andere Gruppen. Sie beurteilen Demokratie und Republik sehr überlegt. Erst vor kurzem haben wir doch gesehen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um Mitglied in der EU zu werden, um die Kontakte mit den USA zu pflegen oder um Beziehungen zu Russland, Indien und China aufzubauen. All das geschah, um an Ansehen zu gewinnen, denn es ist nie gut, nur zu einer Seite Verbindungen zu unterhalten.

Einige so genannte islamische Gruppen tauchen aber immer in den entscheidenden Momenten in der Öffentlichkeit auf.

Wir dürfen nicht vergessen, dass internationale Organisationen hinter manchen Provokationen stecken. Es gibt Gruppen, die unbedingt das Bild des Islam beschädigen wollen und andere Gruppen und Staaten gegeneinander aufhetzen. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die andere Menschen ermorden und als lebende Bomben missbrauchen, über keinerlei muslimische Eigenschaften verfügen. Diejenigen, die in der ersten Reihe stehen, werden von anderen manipuliert.

Wie im Fall der Hisbollah?

Ja. Ich möchte keine Namen nennen, aber jene, die an der Spitze so mancher so genannter islamischer Gruppe stehen, sind ihrer Geburtsurkunde nach weder Türken noch Muslime. Ich habe nie geglaubt, dass sie im Sinne des Islam handeln. Ich bin mir sicher, dass sie nichts weiter als Spielfiguren sind. Menschen und Organisationen operieren unter Namen und Titeln, die auf die eine oder andere Art und Weise aus Wörtern wie Allah, Islam und Religion abgeleitet sind. Die Täter wurden von anderen vorgeschickt, um die Muslime in Misskredit zu bringen. Sie wurden manipuliert, und vielleicht wurden einige von ihnen auch ermordet, um zu verhindern, dass bestimmte Informationen nach außen dringen.

Wie verhält es sich mit jenen, die auf der Straße einen Zikr [einen religiösen Gesang] rezitiert haben?

Was sie da taten, diente allein dem Zweck, Menschen zu diskreditieren, die Gott aufrichtig in ihrem Herzen gedenken. Leider wurden die entsprechenden Leute zu diesem Zweck manipuliert.

Glauben Sie, dass die Intellektuellen diese Bewegung richtig verstehen und definieren?

Das hoffe ich doch sehr. Ich glaube nicht, dass sie sich dieser Bewegung auf Dauer verschließen. Ein Intellektueller ist jemand, der nicht nur belesen ist, sondern auch frei seine Meinung sagen kann. Auch wenn einige behaupten, es gebe in der Türkei nur wenige Intellektuelle, denke ich, dass es doch genug sind, um der Gesellschaft Orientierung zu geben. Die meisten von ihnen werden die Bewegung schon bald verstehen.

Intellektuelle Menschen sollten rational denken und gerecht urteilen können. Ein schönes Beispiel ist Emile Zola, der bei der Wiederaufnahme des Dreyfus-Prozesses eine wichtige Rolle spielte. Es gibt viele Menschen, die wie Zola die Wahrheit heraus schreien möchten. Was von uns verlangt wird, ist, dass wir die Gelegenheit nutzen, ihnen von diesen Aktivitäten [der Bewegung] zu berichten. Ich kenne niemanden, der die Bildungsaktivitäten abgelehnt hätte, nachdem er sie einmal persönlich, mit eigenen Augen inspizieren durfte. Im Gegenteil, nach ihren Besuchen haben Skeptiker stets betont, es gebe in den Schulen nichts, wovor man sich fürchten müsste. Diese seien vielmehr ein großes Versprechen für die Zukunft und trügen zu einem positiven Bild der Türkei in der Öffentlichkeit bei.

Einigen Menschen, die von Hass und Zorn erfüllt sein wird vielleicht nichts anderes einfallen als zu sagen: „Bevor die Türkei durch euch bekannt wird, wünsche ich, sie bleibt unbekannt." Über diese Leute mache ich mir aber keine weiteren Gedanken. Viel wichtiger ist doch, was diejenigen, die in diesen Schulen lernen, denken. Ich habe jedenfalls noch mit niemandem gesprochen, der nach seinem Besuch in einer dieser Schulen nicht gerührt gewesen wäre. Einige von ihnen haben beispielsweise im Fernsehen erzählt: „Unsere Augen füllten sich mit Tränen, als wir in einem Land, das so weit von unserem entfernt ist und das uns zuvor so distanziert gegenüberstand, unsere Flagge wehen sahen und unsere Hymne singen hörten. Kommentare wie diese erfüllen mich mit großer Freude.

Diese Aktivitäten dürfen nicht durch unsachliche Behauptungen wie z.B. „Sie wollen eine die ganze Welt umspannende religiöse Diktatur errichten" herabgewürdigt werden. Wenn es sich hier [bei dieser Bewegung] um etwas handelt, das die Akzeptanz des Volkes findet, dann müssen jene Leute auf diese Gefühle Rücksicht nehmen. Denn ist es etwa korrekt, die aufrichtigen Bemühungen eines Volkes in den Schmutz zu ziehen? Wie kann man von einer Diktatur sprechen, wenn man keinen einzigen Beweis in der Hand hat? Wer soll denn dieses Ziel ausgegeben haben, wo wurde es denn jemals ausgesprochen? Könnten diejenigen, die so etwas planen, denn wirklich so schweigsam sein, dass ihnen nie ein verräterisches Wort über die Lippen gekommen wäre? Geht man etwa allen Ernstes davon aus, dass diese Menschen so brillant sind, dass sie die ganze Welt beherrschen können? Selbst wenn sie noch so große Genies wären - würden sie nicht irgendwann preisgeben, was sie im Innern fühlen? Diese Verdächtigungen ergeben für mich keinen Sinn.

Es gibt Leute, die bereit sind, diese Bewegung in die Schranken zu verweisen, weil sie hinter ihr bestimmte Individuen vermuten. Einer von ihnen hat einmal gesagt: „Ich wünschte, es ständen keine religiösen Menschen hinter dieser Bewegung." Erlauben Sie mir, ganz offen zu sprechen: Würde ich diese Bewegung als mein persönliches Eigentum betrachten, wäre das respektlos und ein Akt der Überheblichkeit. Ich wage es noch nicht einmal, auch nur ein Millionstel dieser Bewegung für mich zu beanspruchen. Andere wiederum sagen sogar: „Wenn nur nicht dieser nichtswürdige Mann, der so tut als sei er ein Imam, hinter dieser Bewegung stände." Hinter dieser Bewegung steht kein Imam, sondern ein ganzes Volk mit einer ganzen Geschichte. Deshalb kann diese Bewegung auch nicht besiegt werden, indem man sie bekämpft: Niemand ist im Stande, ein ganzes Volk zu besiegen.

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