Toleranz und Dialogbemühungen

Dialog und Toleranz wurden in letzter Zeit sehr häufig diskutiert. Manche sprechen Ihnen jedoch bei diesem Thema die Glaubwürdigkeit ab.

Wären Dialog und Toleranz an bestimmte Persönlichkeiten gekoppelt, hätten sie mit Sicherheit nicht auf Dauer Bestand, und die Leute würden sich zurecht Sorgen machen. Meine Motivation entspringt aber religiösen Quellen, denen ich folge. So lange die Religion existiert, wird es auch Dialog und Toleranz geben.

Verfolgen Sie einen interreligiösen oder einen interkulturellen Dialog?

Spricht man von einem interreligiösen Dialog - man könnte sich hier einer Metapher bedienen und den Glauben als eine spirituelle Person sehen -, sind damit die Anhänger der involvierten Glaubensgemeinschaften angesprochen. Wir sollten uns nicht weiter damit beschäftigen, wie unser Dialog genannt wird, ob es vielleicht angemessener wäre, ihn einen interkulturellen Dialog oder einen Dialog zwischen unterschiedlichen Lebensphilosophien zu nennen. All diese Begriffe decken letztlich einen weiten Raum ab und beziehen sich auf die Anhänger verschiedener Glaubensgemeinschaften, auch auf die der nicht monotheistischen Religionen.

Sie sagen, die Quelle von Dialog und Toleranz sei die Religion. Gibt es da auch Beispiele aus der Zeit des Propheten?

Als der Prophet nach Medina ging, verkündete er seine Medina-Deklaration, schloss einen Vertrag mit den Menschen dort und stellte sie unter seinen Schutz. Das erfüllte Abdullah ibn Ubay ibn Salul, den Anführer der Heuchler, mit großem Zorn. Umgehend begab er sich nach Mekka, berief ein Treffen der Götzenanbeter ein und provozierte sie, indem er sagte: „Seht euch das nur an! Dieser Mann zieht alle Welt auf seine Seite. Er wird in der Zukunft eine große Gefahr für euch darstellen. Mit anderen Worten: Es gab bereits zu jener Zeit - genauso wie heute - schon Menschen, die sich ihre Meinung auf der Basis von Wahnvorstellungen und Hirngespinsten bildeten. Ein anderes Beispiel ist die Mubahala [das Herabrufen des Fluchs Gottes auf Lügner], als der Prophet die Christen aus Nadschran einlud. Damals wurde der Koranvers Kommt her, lasst uns rufen unsere Söhne und eure Söhne, unsere Frauen und eure Frauen und unsere Seelen und eure Seelen. Alsdann wollen wir zu Allah flehen und mit Allahs Fluch die Lügner bestrafen. (3:61) offenbart. Als der Prophet sie zur Mubalaha aufforderte, lehnten sie dies ab, weil sie den Fluch eines Gesandten Gottes fürchteten und willigten ein, Steuern zu zahlen und mit den Muslimen zusammenzuleben. Einen Vertrag schloss der Prophet außerdem auch mit den Bewohnern von Taghlib, die er so auf seine Seite zog, und mit den Götzenanbetern in Hudaybiya, der ihm einiges abverlangte. Im Gedenken daran wurde auch die 500-Jahres-Stiftung [von Juden gegründete Stiftung zum Gedenken an die Übersiedlung von Andalusien nach Istanbul] gegründet. Die gleiche Form von Toleranz finden wir auch in der Ära der Republik, und so mancher, der vor der Tyrannei der Nazis floh, fand in Anatolien Zuflucht. Von dieser Gesinnung ist unsere Kultur entscheidend geprägt. Unter unserer Verwaltung stehen Moscheen, Kirchen und Synagogen Seite an Seite, leben die Menschen, ohne Probleme miteinander zu haben.

Glauben Sie, dass man der Toleranz in Zukunft eine andere Bedeutung beimessen wird?

Das hieße nichts anderes, als Harakiri, Selbstmord zu begehen. Der Dialog hat uns ermöglicht, einen Prozess in Gang zu setzen, in dem wir endlich wieder das erhabene Antlitz des Islam präsentieren dürfen - ein Antlitz, das von lebenden Bomben und von Menschen, die sich durch Unterdrückung in Roboter verwandelt haben, beschmutzt wurde. Dieser Prozess wird weitergehen.

Der Gesandte Gottes sagte: Mein Name wird überall hin reichen, wo die Sonne auf- und untergeht. Genau dies betrachte ich als unser Ziel. Die Tatsache, dass der Prophet als Gründer einer Religion vorgestellt wird, deren Mitglieder Terroristen sind, ist ein schweres Verbrechen an seinem Namen. Auf die Repräsentanten von Dialog und Toleranz wartet die schwierige Aufgabe, dieses Bild des Propheten wieder zu korrigieren. Wer ihnen eine andere Aufgabe zuspricht, nimmt in Kauf, den positiven Eindruck, den diese Repräsentanten bislang erzeugt haben, wieder kaputtzumachen, was einem Verrat gleichkäme.

Spielen Sie hier auf Missionierung an?

Ja. Es ist bekannt, dass die Kirche überall auf der Welt und insbesondere auch in der Türkei eifrig tätig ist und dass sie viele wichtige Repräsentanten hat. Ein Freund von mir in Boston hat mir von einem vor 500 Jahren geschriebenen Buch erzählt. In diesem Buch, das in einer Zeit verfasst wurde, als der Balkan unter der Herrschaft der Osmanen stand, wurde die Minderheit [der Christen] aufgefordert: „Bleibt dort, behaltet eure Gefühle und Gedanken für euch, und offenbart euch niemandem. Die Zeit wird kommen, da ihr die Möglichkeit erhalten werdet, euch zu artikulieren." Dieser Ratschlag ist mir wichtig; ihm scheinen einige Leute schon sehr bald gefolgt zu sein.

Ja, so etwas gibt es durchaus; aber was sich im Vatikan oder an einigen anderen Orten abspielt, steht in keinem Zusammenhang mit unserer Bewegung für Dialog und Toleranz. Weder ich noch meine Freunde, die sich mit mir zusammen dieser Bewegung verschrieben haben, verdienen es, beschuldigt zu werden, von irgendjemandem gelenkt zu werden. Unsere Bewegung für Dialog und Toleranz gehört voll und ganz dem türkischen Volk, und in der Türkei liegen auch ihre Wurzeln. Unsere Dialogbemühungen stellen keine Ausweitungen der Bemühungen anderer dar, im Gegenteil: Andere Bemühungen entsprangen der Idee „Wenn sie das tun, warum können wir das dann nicht auch?" Und warum andererseits sollten wir nicht versuchen, uns Gehör zu verschaffen, indem wir uns mit ihnen treffen?

Einige islamische Gruppen sehen in den Dialogbemühungen einen Schritt in die falsche Richtung.

Was diejenigen, die wie Hodschas [religiöse Führer] auftreten, oder andere, die sich als große spirituelle Persönlichkeiten oder sogar als Heilige ausgeben, denken, weiß Gott allein. Er weiß genau, was in unseren Herzen ist. Ich bin stets dem Weg des Gesandten Gottes gefolgt, in Details, die z.B. das Zubettgehen betreffen, und erst recht in den wichtigen Dingen. Ich denke, das können diese Leute nicht von sich behaupten.

Der Islam akzeptiert Jesus als einen wahren Gesandten Gottes. Gibt es umgekehrt auch Christen, die den Propheten Muhammad als einen wahren Gesandten Gottes betrachten?

Im Rahmen unserer Dialogbemühungen habe ich solche Menschen kennen gelernt und bin an unterschiedlichen Orten mit ihnen zusammengetroffen. Einmal war gerade Gebetszeit. Als wir darum baten, uns kurz zurückziehen zu dürfen, bekundeten sie uns Respekt und sagten: Bitte, bitte, wir werden hier beten, solange bis ihr eure Gebete verrichtet habt." Tausende solcher Menschen mit einem warmherzigen Wesen haben dank der Dialogbemühungen gesagt: „Muhammad ist ein Gesandter Gottes, und der Koran ist das Wort Gottes." Es ist, als sei ein Wunder geschehen. Said Nursi hat den Begriff ,christliche Muslime' geprägt, um dieses Phänomen zu beschreiben und seine hohe Wertschätzung für diese Menschen zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff charakterisiert Christen, die unserer Religion unvoreingenommen gegenüberstehen, die unseren Propheten als einen wahren Gesandten Gottes akzeptieren und glauben, dass der Koran das Wort Gottes ist. Ich kann Ihnen Hunderte solcher Menschen zeigen. Leider behaupten manche jedoch, einige Muslime hätten sich im Zuge dieser Bemühungen um Dialog und Toleranz zum Christentum bekehren lassen. Verzeihen Sie mir, aber das sind nichts als Lügen. Doch was sollen wir tun, jeder zeigt eben sein wahres Wesen.

Wenn die Religion doch den Dialog fördert, müssen sich dann diejenigen, die Angst vor ihm haben, die Frage stellen, ob sie tatsächlich fromme Menschen sind?

Einige Leute denken, der Rest der Welt müsse so sein wie sie. Sie sollten einen Blick auf ihre Nation werfen. Ihre Leistung, die Werte ihrer eigenen spirituellen Grundprinzipien zu bewahren, beweist zwar, wie stark ihr Glauben ist; sie dürfen jedoch nicht generalisieren. Das könnte in Hinblick auf die Europäische Union Misstrauen erregen. Wenn sie selbst Angst haben [einen Dialog zu führen], sollen sie es eben anderen überlassen.

Einmal traf ich einen Geistlichen, der großen Respekt vor dem Islam hatte. Er erzählte mir: "Unsere jungen Leute laufen der Kirche davon." Ich entgegnete ihm, dass die Zahl unserer Jugendlichen, die in die Moschee zum Beten kommen und im Ramadan fasten, steigt. Er fuhr fort: "Unter den jungen Menschen von heute existiert eine große Niedergeschlagenheit. Ehrlich gesagt, wäre ich angesichts einer solchen Generation lieber nicht an Gottes Stelle." Ich kritisierte ihn: „Was die Beziehung zwischen Gott und Seinen Dienern betrifft, glaube ich nicht, dass sich eine solche Äußerung für jemanden in Ihrer Position geziemt." Da erwies sich der Mann als sehr ehrenhaft und antwortete: „Ich entschuldige mich bei Gott, mir ist die Zunge ausgerutscht." Diese Menschen sorgen sich um ihre eigenen Jugendlichen. Warum sollten wir missionieren? Wenn man uns die Chance gibt, zu sagen, was wir denken, reicht uns das völlig aus.

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