Der freie Wille

Der freie Wille - kurz und knapp definiert als die Macht oder die Bereitschaft, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, etwas zu tun - ist ein ganz wesentliches Element unseres Menschseins und maßgeblich verantwortlich für das ethische Handeln. Gäbe es keinen freien Willen, könnten wir weder über Tugend noch über das Menschsein an sich sprechen. Wer anerkennt, einen freien Willen zu besitzen, ist sich seiner selbst bewusst. Wer diese Anerkennung hingegen verweigert, der verkümmert als Individuum und weiß nicht, wie er sich verhalten und was er denken soll. Von Desorientierung und Unschlüssigkeit werden nur diejenigen Menschen verschont, die zu sich selbst finden und ihren freien Willen in ihre Persönlichkeit integrieren. Alle anderen dürfen kaum erwarten, ein stabiles Seelenleben zu führen, ausgewogen zu handeln oder jemals sie selbst zu sein, egal wie sehr sie sich auch bemühen mögen.

Willentliches Handeln benötigt zunächst einen Plan und dann eine Entscheidung, was wiederum geistige Vitalität und Aktivität erfordert. Insofern sind von allen Geschöpfen, die wir kennen, einzig und allein wir Menschen in der Lage, willentlich zu handeln. Gott, der Allmächtige, hat uns bei Geburt mit einem freien Willen ausgestattet, der Seinen übergeordneten höchsten Willen gewissermaßen zu sich einlädt. Unser freier Wille ist so etwas wie unser Anfangskapital. Er ist ein Instrument zur Entschlüsselung versteckter Codes und eine Fackel. Wohin auch immer sie leuchtet, dort manifestieren sich auch das Licht und der übergeordnete höchste Wille des Einen, der die gesamte Schöpfung und den Raum regiert. Menschen, die ihren beschränkten freien Willen mit dem übergeordneten höchsten Willen des Schöpfers vereinigen, sind keine Grenzen mehr gesteckt. Sie werden machtvoll in ihrer Hilflosigkeit und stark in ihrer Schwäche. Sie verwandeln sich von einem Tropfen in ein Meer, von einem Atom in die Sonne. Wo sie einst ein Nichts waren, werden sie zu vollwertigen Geschöpfen.

Der Wille des Menschen ist, trotz seiner Beschränktheit, ein unvergleichliches Geschenk des unermesslichen Willens Gottes an das bemerkenswerteste Geschöpf auf Erden. Wer dieses Geschenk als einen Schlüssel zu geheimen Mysterien zu nutzen weiß, der wird selbst die schwierigsten Fragen beantworten, die dunkelsten Punkte erhellen, die am sorgfältigsten verriegelten Türen öffnen und den wertvollsten Schatz heben können. Der freie Wille besteht nicht aus Denken oder Handeln allein. Vielmehr ist er der Urquell und der Sitz der Spiritualität, des aufrichtigen Herzens und der körperlichen Aktivität. Er allein vermag uns Menschen Türen zu öffnen, die uns trotz unserer begrenzten Möglichkeiten zur Ewigkeit führen. Wer sich klar gemacht hat, was es bedeutet, einen freien Willen zu besitzen, kann nicht nur viele Probleme mit einem Schlag lösen, sondern gleichzeitig auch die Tore der Hölle versperren und jenen Weg der Sterne entdecken, der in die Himmel führt.

Jede gute Sache und jedes Ideal wird mit Hilfe von Plänen und Projekten, die unserem freien Willen entspringen, ins Leben gerufen. Beständigkeit und Nachhaltigkeit erlangen sie aber erst dann, wenn dieser Wille auf die höheren Sphären hin ausgerichtet ist. Die Kraft unseres freien Willens lässt uns selbst die größten Hindernisse überwinden. Die Distanz zum Mond etwa wurde auf den Flügeln des freien Willens überbrückt, und der Gipfel des Berges Ararat wurde vermöge des freien Willens erforscht. Auch die Ozeane, in denen sich der übergeordnete höchste Wille Gottes manifestiert, wurden mit der Fackel des freien Willens des Menschen erleuchtet. In den Tagen, die da kommen werden, wird sein Licht einen großen Teil des Alls in ein strahlendes Buch für uns verwandeln. Ob die Menschen ein spirituelles Leben führen, ob sie sich den zahllosen Versuchungen ihres Umfelds entziehen können und ob sie das Wesen ihres Menschseins erkennen - all das hängt davon ab, ob sie die Sprache des freien Willens und von dessen Gebeten verstehen. Menschen, die ihren freien Willen benutzen, um mit ihm Kontakt zu ihrem unendlich Barmherzigen Herrn herzustellen, dürfen auf Seine Macht vertrauen, genießen Seinen Schutz und werden davor bewahrt, in den Abgrund eines Lebens zu stürzen, das sich allein um die Befriedigung der fleischlichen Gelüste dreht.

Geradeso wie jede Art von Existenz und Aufstieg von den Flügeln des freien Willens getragen wird, ist andererseits auch jeder Absturz auf das Abknicken dieser Flügel zurückzuführen. Einerseits wurde ein Mensch wie Barsisa[1], der den höchsten spirituellen Rängen entgegenstrebte, von einer einzigen unbedeutenden Affäre und einem Moment der Achtlosigkeit auf den Boden zurückgeworfen. Andererseits gelang es dem erhabenen Propheten Joseph, umzingelt von Lüsten im Palast des ägyptischen Wesirs, alle Attacken seines sinnlichen Selbst auf ein Zeichen Gottes hin abzuwehren. Zusätzlich zu seiner körperlichen Schönheit erwarb er sich mit seiner aufstrebenden Seele eine andere Art von Größe und wurde in die Sphären jenseits der Himmel emporgetragen.

An den entscheidenden Punkten im Leben des Menschen, an denen die dämonischen Ereignisse und Monster auf der Lauer liegen und nur auf einen Moment der Schwäche warten, halten einzig all jene vornehmen Menschen stand, die im Einklang mit dem Willen Gottes stehen, die sich auf den Flügeln des freien Willens emporschwingen und die Zügel des Universums in ihren Händen halten. Diese vornehmen Menschen werden mit jedem neuen Erlebnis widerstandsfähiger. Jedes Unheil härtet sie nur ab und macht sie wachsamer. Den Unwägbarkeiten, die sie umgeben, begegnen sie wie ein tosender Sturm. Ganz im Gegensatz zu den unerfahreneren Seelen, deren Gedanken und Emotionen sich noch nicht gesetzt haben. Sie geraten bei jedem Geräusch in Panik und nehmen schon beim leichtesten Beben Schaden. Sie verlieren die Orientierung, wo sie standhaft bleiben und Widerstand leisten sollten. Möglicherweise erzeugen sie vorübergehend Lichtblitze, die die Menschen in ihrem Umfeld blenden; aber sie schaffen es nie, dauerhaft Licht zu spenden oder die Massen aus ihrer Verwirrung zu erretten. Doch nicht nur, dass sie niemanden retten können; der Lärm, den sie produzieren, provoziert ihre Widersacher und macht alles nur noch schlimmer.

Passe dich der Gegenwart an, und sei kein schwacher Strahl, sondern ein gewaltiger Strom. Sei ein Mysterium, nach außen hin schlicht und tiefgründig im Innern. Was sonst bleibt uns übrig, als tatkräftig und aktiv zu sein, unerschütterlichen Herzens nach der Ewigkeit zu streben und nie aufzugeben? Wir haben keine Zeit zu verschwenden mit Leuten, die Nichtigkeiten unnötig aufblähen. Was wir heute dringend benötigen, ist die bedeutungsvolle Melodie der leidenden Koralle aus der Tiefe des Riffs, die die Menschen an den Küsten zu neuem Leben erweckt, auch wenn ringsum die Haie kreisen. Eine nur vom Geist wahrzunehmende Melodie, so sanft wie nur irgend möglich und frei von allem überflüssigen Pomp. Eine Melodie, die mit ihren Pausen übereinstimmt, die in den Herzen widerhallt, eine Melodie, die das Bemühen all derjenigen widerspiegelt, die diesen gesegneten Weg beschreiten.

Anmerkung[1] Barsisa war ein allseits geachteter erhabener Mensch, den der Satan mit Hilfe einer schönen Frau auf Abwege führte.

Die Fontäne, Oktober - Dezember 2009, Jahrgang 12, Nr. 46

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