Ikhlas (Aufrichtigkeit oder Makellosigkeit der Absicht)

Ikhlas lässt sich interpretieren als Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit und Reinheit in Ansichten und Lebensführung, ohne allerdings mit diesen Eigenschaften zu prahlen und zu protzen. Makellosigkeit der Absicht, Geradlinigkeit der Gedanken, die Nichtbeachtung weltlicher Ziele in der Beziehung zu Gott und Loyalität in der Dienerschaft Gottes sind weitere Inhalte des Begriffes ikhlas.

Ikhlas verlangt, dass der Mensch in seiner Verehrung Gottes und seinem Gehorsam Ihm gegenüber keine weltlichen Ziele anstrebt und seine Pflichten der Dienerschaft ausschließlich deshalb erfüllt, weil Gott es ihm befiehlt. Ikhlas erfordert außerdem, dass der Mensch die Behandlung, die ihm Gott angedeihen lässt, nicht anderen offenbart und auch niemandem von den Geschenken berichtet, die Gott ihm macht. Darüber hinaus muss er in all seinen Taten anstreben, die Zustimmung und das Wohlgefallen Gottes zu finden. Aufrichtigkeit ist eine der bedeutendsten Qualitäten jener Menschen, die Gott gegenüber am gewissenhaftesten und loyalsten sind. Die Loyalität des Menschen gilt als eine Quelle, die Aufrichtigkeit aber als das ,süße Wasser', das dieser Quelle entspringt. Der Prophet Muhammad teilte uns mit, dass jemand, der von diesem Wasser trinkt, die Kanäle der Weisheit zwischen seinem Herzen und seiner Zunge vierzig Tage lang geöffnet findet und infolge dessen mit großer Weisheit spricht.

Loyalität oder Treue sind die Hauptattribute der Prophetenschaft, und die Aufrichtigkeit ist die schillerndste Dimension dieser Attribute. Alle Propheten waren von Geburt an mit einer Aufrichtigkeit bedacht, die andere Menschen ihr ganzes Leben lang zu erlangen suchen. Der Koran beschreibt z.B. den Propheten Moses als einen aufrichtigen Menschen.[1]

Treue und Aufrichtigkeit sind grundlegende, entscheidende Eigenschaften der Propheten; aber auch für die Repräsentanten der Mission der Propheten sind sie - ähnlich wie Luft und Wasser - äußerst wichtige Kraftspender. Die Propheten waren davon überzeugt, dass sie keinen Schritt ohne Aufrichtigkeit tun konnten; aber auch die Repräsentanten der Mission der Propheten haben allen Anlass zu glauben, dass sie ohne Aufrichtigkeit keines ihrer Ziele erreichen können.

Treue und Aufrichtigkeit sind die zwei Flügel oder Ozeane, die sich von der Gunst und Gnade Gottes bis zum Herzen des Menschen erstrecken. Kein Mensch, der jemals in diesen Ozeanen segelte oder mit diesen Flügeln flog, unterbrach seinen Flug auf halbem Weg zum Ziel; denn jene, die mit den Flügeln von Treue und Aufrichtigkeit fliegen, stehen unter dem Schutz Gottes. Jede Tat des Menschen, die das Wohlgefallen Gottes zum Ziel hat, ist - so klein sie auch sein mag - in Seinen Augen höchst wertvoll. Der Arbeitsaufwand spielt dabei keine Rolle. Eine kleine Tat, in aufrichtigem Geiste verrichtet, ist vielen großen unaufrichtig ausgeführten Taten vorzuziehen.

Die Aufrichtigkeit ist eine Haltung des Herzens, und Gott beurteilt den Menschen nach den Neigungen seines Herzens. Der Prophet sagte:

Gott beurteilt mit Sicherheit nicht eure Körper oder eure äußere Erscheinung. Nein, Er bewertet eure Herzen.[2]

Die Aufrichtigkeit ist eine geheimnisvolle Gnade Gottes, die Menschen mit einem reinem Herzen gewährt wird; sie lässt das, was klein ist, wachsen und verleiht dem, was seicht ist, Tiefe; limitierte Verehrung erhält durch sie eine unendliche Dimension. Mit ihrer Unterstützung kann der Mensch danach streben, die wertvollsten Dinge auf den Märkten dieser und der kommenden Welt zu erwerben; mit ihrer Unterstützung wird er überall dort geschätzt und willkommen geheißen, wo andere großes Leid erwartet.

Muhammad bezieht sich auf diese geheimnisvolle Kraft der Aufrichtigkeit, wenn er verkündet:

Es genügt, wenn ihr wenig Arbeit leistet (die aber aufrichtig verrichtet ist).[3]

oder

Seid aufrichtig in euren Taten, Gott akzeptiert nur aufrichtige Arbeit.[4]

Betrachtet man eine Tat als einen Körper, dann stellt die Aufrichtigkeit die Seele dieses Körpers dar; betrachtet man sie als einen von zwei Flügeln, mit denen wir fliegen, so ist die Aufrichtigkeit der andere. Ein Körper ohne Seele besitzt keinen Wert, und mit nur einem Flügel zu fliegen, ist unmöglich. Mawlana Dschalal ad-Din ar-Rumi fasste diese Wahrheit in Worte:

„Sei in all deinen Taten aufrichtig,
Damit der Majestätische Gott sie auch annimmt.
Aufrichtigkeit ist der Flügel des Vogels der Hingabe.
Wie willst du ohne Flügel zum Ort des Glücks fliegen?"

Auch folgende Worte Bayazid al-Bistamis drücken dies sehr treffend aus:

„Dreißig Jahre lang verehrte ich meinen Herrn mit all meiner Kraft. Dann hörte ich eine Stimme rufen: ,O Bayazid, die Schatzkammern Gottes, des Allmächtigen, sind angefüllt mit Akten der Verehrung. Wenn du zu Ihm gelangen möchtest, betrachte dich als so klein wie die Tür Gottes, und sei in deinen Taten aufrichtig."

Für einige Menschen bedeutet Aufrichtigkeit, darauf zu verzichten, sich bei der Ausführung von Taten, die über das Pflichtmaß hinaus gehen, sehen zu lassen und mit ihnen zu protzen. Andere sind der Ansicht, aufrichtig sei ein Mensch dann, wenn er sich nicht darum kümmert, ob ihm jemand bei seinen religiösen Handlungen zusieht. Für wieder andere drückt Aufrichtigkeit eine so große Inanspruchnahme durch die Verehrung Gottes oder andere religiös motivierte Handlungen aus, dass sich der aufrichtige Mensch nicht einmal daran erinnert, ob er aufrichtig sein sollte oder nicht. Eine elementare Dimension der Aufrichtigkeit ist die Selbstkontrolle. Ein wahrhaft aufrichtiger Mensch schenkt weder den spirituellen Freuden, die er aus seiner Verehrung bezieht, noch anderen wichtigen Auszeichnungen, die er zu erhalten hoffen darf wie z.B. dem Paradies, Beachtung.

Die Aufrichtigkeit ist ein Geheimnis zwischen Gott und Seinem Diener. Gott pflanzt sie in die Herzen derer, die Er liebt. Einem Menschen, der seine Aufrichtigkeit bewusst lebt, ist es egal, ob andere ihn loben oder anschuldigen, ihn verehren oder demütigen, sich seines Tuns bewusst sind oder nicht. Für ihn ist es nebensächlich, ob er für seine Taten ausgezeichnet wird. Ein solcher Mensch ändert sich nie und handelt - für alle sichtbar oder im Geheimen - immer gleich.


[1] 19:51
[2] Muslim, Birr, 33; Ibn Madscha, Zuhd, 9
[3] Munawi, Fayd al-Qadir, 1.216
[4] Munawi, Fayd al-Qadir, 1.217"