Die Hizmet-Bewegung und die vermeintliche Unterwanderung des Staates

Die Hizmet-Bewegung und die vermeintliche Unterwanderung des Staates

Frage: Es wird behauptet, die Hizmet-Bewegung unterwandere den Staat und strebe die Machtergreifung an. Die Freiwilligen in der Bewegung und diejenigen, die sie aus nächster Nähe kennen, wissen, dass es sich hierbei um Verleumdungen handelt. Allerdings haben diese Unterstellungen in der Tat viele Menschen verunsichert und für Verwirrung gesorgt. Was kann man auf diese Anschuldigungen erwidern?

Antwort: Es gibt Lehrer, Direktoren, Ingenieure, Richter, Staatsanwalte, Minister und Ministerprasidenten, die qualifiziert, unbestechlich, gerecht, ehrlich und den Burgern gegenuber respektvoll sind, das Volk nicht ausbeuten und ihrer Aufgabe vollig nachkommen. Auf der anderen Seite gibt es auch pflichtvergessene Amtstrager, die sich um Recht und Gesetz nicht scheren, unqualifiziert und den Burgern gegenuber respektlos sind. Fragt man die Menschen: „Welche Art von Wurdentragern wunscht ihr euch?“, so wurde wohl jeder die Erstgenannten nennen. Tausende von Akademikern, Intellektuellen, Soziologen, Journalisten und Padagogen unterschiedlichster Couleur bestatigen, dass die Hizmet- Bewegung Menschen mit genau diesen positiven Eigenschaften ausbildet. Die Menschen in Anatolien[1] haben mit groser Muhe Bildungseinrichtungen gegrundet und engagieren sich dort dafur, um Menschen mit den o. g. Eigenschaften auszubilden. Wenn nun qualifizierte und kompetente Absolventen dieser Einrichtungen sich in Institutionen einbringen, in die sie auf ganz legalem Weg Eingang gefunden haben, kann man in Anbetracht dessen wirklich von Unterwanderung des Staates bzw. Machtergreifung sprechen oder ist das nicht vielmehr ein Dienst am Staat, der Bevolkerung und dem Land?

Ein zweiter Punkt: Menschen an die Wissenschaften, die Ethik, spirituelle Werte und wahrhaftige und authentische Religiositat heranzufuhren und ihnen dabei zu dienen ist nicht das Monopol eines Einzelnen, sondern dieser Dienst ist ein Erfordernis im Wertesystem aller Menschen. Die Freiwilligen, die sich in den Bildungseinrichtungen engagieren, sind von einer tiefen Liebe zu ihrem Land und ihren Mitburgern angetrieben und bemuht, alle Gesellschaftsschichten anzusprechen. Wenn nun Menschen aus unterschiedlichen Schichten diesem Ruf folgen, ist das dann eine Unterwanderung des Staates und eine Machtergreifung oder nicht eher ein Dienst am Land und dessen Bevolkerung, ja ein Dienst an der Menschheit?

Drittens: Es ist leider eine Tatsache, dass man sich heutzutage in den offentlichen Einrichtungen und Behorden an gesetzwidrige und unethische Verhaltensweisen wie Korruption, Bestechung und Vetternwirtschaft gewohnt hat. Aus diesem Grund ist Personal, das sich seiner Aufgabe widmet und fur seinen Lohn ehrliche Arbeit leistet, das Recht und Gesetz ergeben ist und nicht stiehlt, korrupt und bestechlich ist, in ihren Abteilungen nicht beliebt und nicht erwunscht. In der Tat stellen Teile des Beamtenapparates, die sich der Ethik und den Tugenden verpflichtet sehen und daher ihren Aufgaben so nachkommen, wie es im Rahmen von Recht und Gesetz von ihnen erwartet wird, eine Bedrohung fur diejenigen dar, die ihre hohe Stellung und ihr Amt als ein Mittel zur Bereicherung betrachten.

Wie sollten sich nun ehrliche Menschen in einer solchen Situation verhalten? Sollten sie davon absehen, ihre Aufgaben recht und billig wahrzunehmen, weil sie sich vor Repressalien derjenigen furchten, denen an Recht und Gesetz nichts liegt? Mit anderen Worten: Bedeutet es Unterwanderung des Staates und Machtergreifung, wenn man seine Aufgaben gemas hohen menschlichen Werten und den Regeln des Gesetzes bewaltigt?

Der psychologische Aspekt: Schuldkomplexe und Projektionen

Davon abgesehen ist jedes Individuum in einem Land – und dazu gehoren naturlich auch die Freiwilligen der Hizmet-Bewegung und ich selbst – Burger dieses Staates. Ich beispielsweise bin ein Ur-Anatolier. Ich bin entschieden gegen Rassismus; eine Gesinnung, in der es um die Reinheit des Blutes und Schadelformen geht, liegt mir vollkommen fern. Aber ich liebe Anatolien und seine Menschen zutiefst. Wie kann man also einem Burger das Etikett anhangen, den Staat zu unterwandern, wenn er sich in staatlichen Einrichtungen seines eigenen Landes engagiert und andere ermuntert, dies ebenfalls zu tun? Unterwandern bezeichnet eigentlich ein Recht und Gesetz widerstrebendes Unterfangen von Menschen, die die Dienste des Staates fur ihre eigenen Zwecke missbrauchen; denn es sind genau diese Personen, die – um ihr eigenes Vorgehen zu vertuschen – andere mit genau diesen Anschuldigungen uberziehen.

Ja, jeder Burger eines Landes hat das Recht, im offentlichen Dienst eine Stellung zu bekleiden, wenn er die erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen aufweist. Einige jedoch, die Schlusselpositionen besetzen, die fur das Schicksal der Nation lebenswichtig sind, haben es sich an diesen wichtigen Schnittstellen gemutlich gemacht und sich dort eingenistet. Sie setzen dort das Sehnervensystem des Volkes unter Druck und truben den klaren Blick der Burger des Landes; stellen aber gleichzeitig das Verhalten und die Aktivitaten der Freiwilligen der Hizmet-Bewegung paranoid als „Unterwanderung“ dar und hoffen, dass auch andere das so betrachten. Sie haben sich in dieser Paranoia derart verrannt, dass sie uberall nur noch Unterwanderung sehen: Wenn jemand den Turknauf beruhrt, wenn es an der Tur klingelt, wenn sie sich niedersetzen und wenn sie aufstehen – sie leben in standiger „Unterwanderungs“-Paranoia.

Sowohl Anrecht als auch Verantwortung

In Wirklichkeit ist es jedoch so, dass der Burger eines Landes die staatlichen Einrichtungen seines eigenen Landes gar nicht unterwandern kann; es ist sein gutes Recht, sich dort einzubringen. Er arbeitet in der Finanzbehorde, er arbeitet beim Gericht, er arbeitet im auswartigen Dienst. Warum sollte das ein Kind des Landes nicht tun? Wollt ihr beispielsweise den Bewegungsradius der Menschen in Anatolien auf Korankurse reduzieren? Sollen wir sie lediglich zum Besuch der Imam-Hatip-Schulen[2] ermuntern? Ich kann nur immer wieder betonen und werde nicht mude, dies zu tun: Der Mensch Anatoliens, der Burger dieses Landes, hat das Recht, in allen Institutionen des Landes tatig zu sein und gebraucht dieses ihm zustehende Recht. Ihm dieses Recht zu verweigern ist ein klarer Fall von Ungerechtigkeit, Despotismus und Tauschung. An dieser Stelle mochte ich aber darauf hinweisen, dass es sie wie ein Bumerang treffen wird, sollten [die Regierenden] den Menschen Anatoliens in ihrem eigenen Land die Turen ihrer eigenen staatlichen Einrichtungen versperren. Das Gewissen des Volkes wird darauf reagieren: „Wenn der Despot auch Gewalt ausubt, das Opfer hat Gott auf seiner Seite / Das ganze Volk zu unterdrucken ist leicht, morgen jedoch tagt das Gericht des Einzig Wahren.“

Wenn ich wusste, dass meine Stimme auch den entferntesten Winkel Anatoliens erreicht, wurde ich den Menschen erneut zurufen: In dem Mase, in dem ihr eure Kinder zu den Korankursen schickt, schickt sie auch auf die Imam-Hatip-Schulen; im selben Mase lasst sie auch Politologie und Gesellschaftswissenschaften studieren. In dem Mase in dem ihr sie Medizin und Ingenieurwissenschaften studieren lasst und sie auf die Polizeiakademien schickt, lasst sie auch Jura studieren und schickt sie auf Militarschulen! Dieses Land gehort euch, daher ist es auch euer Recht, fur den Fortbestand der Institutionen zu sorgen, die dieses Land am Leben erhalten – dies ist sogar eure Verantwortung.

„Der Andere“

Eigentlich dienen solche Behauptungen nicht dem Wohle des Volkes, sondern jenen, denen der momentane chaotische, verworrene und rechtsfreie Zustand der Turkei in die Karten spielt, da sie daran interessiert sind, ihre eigene Machtposition zu starken. Diese Behauptungen dienen als Argumente derjenigen, die verhindern wollen, dass Menschen die Tatsachen und den wahren Zustand des Landes erkennen. So wie sie die Amter und Posıtıonen, die sie besetzen, unter keinen Umstanden aufzugeben gedenken und das Ziel verfolgen, diese auf ihre Kinder und Enkel ubergehen zu lassen, so sehr furchten sie sich ernsthaft vor einem Demokratisierungsprozess und setzen daher alles daran, Schritte in Richtung Rechtsstaat und Demokratie zu blockieren.

Diese Leute sehen in dem Aufstieg des Volkes ihren Abstieg bzw. Niedergang und daher betrachten sie Menschen, die sich ihren Aufgaben mit Hingabe widmen, als Bedrohung ihrer eigenen Zukunft. Sie haben nur ihren personlichen Vorteil im Blick und gehen gestern wie heute die verschiedensten Koalitionen ein. In ihren bequemen Amtssesseln sitzend erfullt sie die Furcht davor, dass eines Tages ihre Korruption und Unehrlichkeit hinterfragt wird, und daher werfen sie derartige Behauptungen in den Raum. Sie fuhlen sich unwohl angesichts der Menschen, die nicht so sind wie sie, und betrachten sie als Hindernis fur ihren bequemen, bohemienhaften und unbekummerten Lebensstil, dem sie auf Kosten des Staates und seiner Burger fronen. Anschliesend hullen sie ihr teuflisches Gemut in den Mantel unschuldiger Gedanken, indem sie sagen: „Ein Putsch, wir sind umzingelt, wir wurden unterwandert!“ Dummes Gerede dieser Art fuhrt allenthalben zu Aufruhr. Standig wiederholt entwickelt sich daraus eine Paranoia und sie betrachten alle anderen auser sich selbst krankhaft als Feinde und „Andere“.

Andererseits darf man nicht vergessen, dass diese Behauptungen und Unterstellungen Teil einer psychologischen Kriegsfuhrung sind. Manche nutzen alle moglichen Verleumdungen, um Staatsmannern zu drohen, sie zu erpressen und einzuschuchtern. Sie beschuldigen und unterdrucken Menschen, die zum Wohle des Staates und der Nation wirken konnten, und verhindern deren Vorwartskommen. Ihr Ziel ist es, unter diesem Vorwand den Weg der Kinder dieses Landes vollstandig zu verbauen.

Projektion: Von sich auf andere schließen

Es gibt einige Menschen, die demokratische Gepflogenheiten und Regeln mit Fusen treten, sie uber Bord werfen und so bis in die Schaltzentralen des Landes vorgedrungen sind und das Volk unter ihre Kontrolle gebracht haben. Sie haben sich teils legal, teils illegal der Mittel des Staates bemachtigt und alle ihnen zu Verfugung stehenden Moglichkeiten ausgeschopft, um sich heimlich Posten zu verschaffen. Genau diese Art von Menschen betrachtet ihre Umwelt stets aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Innenwelt und beurteilt die verschiedensten Aktionen und Entwicklungen, Aktivitaten und Bewegungen im Vergleich zu ihrem eigenen Handeln und richtet schlieslich ihr Verhalten gegenuber ihren Mitmenschen danach aus, wie sie sich diese in ihrer Vorstellung ausmalen – sie selbst haben Dreck am Stecken und schliesen nun von sich auf andere. Da in Wahrheit sie selbst es waren, die „unterwanderten“, bezichtigen sie auch jene der Unterwan- derung, die ihre Befahigungen und Qualifikationen einbringen und in der Administration Verantwortung ubernehmen.

So wir ein Dieb, der beim Vorbeigehen auf die geschlossenen Laden eines Geschaftes schaut und sich Gedanken daruber macht, wie er wohl am einfachsten die Laden offnen, das Schloss knacken, auf welchem Weg er in das Innere kommen und wie er dann schnellstmoglich das Geschaft ausrauben konne. Also noch im Vorbeigehen beginnt er den Raub mit seinen Augen, legt die Basis fur seinen Raubzug und ist gedanklich mit der Planung desselben beschaftigt. Wahrenddessen macht sich der Besitzer des Geschafts auf den Nachhauseweg und schaut noch einmal zuruck, ob die Laden auch geschlossen sind, ob er alle Vorsichtsmasnahmen getroffen hat, um einen Einbruch zu verhindern, und ob das Schloss wohl ausreichend sicher ist. Der Dieb jedoch, der nicht weis, dass es sich bei dem Mann um den Besitzer des Geschafts handelt, vermutet, dass dieser ebenfalls zu seiner Rauberbande gehort – er schliest von sich auf andere.

Analog dazu beurteilen Menschen, die wie die vierzig Rauber die Geschicke der Nation bestimmten, die betreffenden Institutionen besetzten und unter sich aufteilten, diejenigen, die sich mit absolut reinen Beweggrunden darum bemuhen, menschliche Tugenden zu mehren, wie sich selbst und schliesen von sich auf andere. Und das, obwohl sich diese aus den reinsten Gedanken heraus ihrer Arbeit widmen. Sie hegen noch nicht einmal in ihren Traumen weltliche Wunsche und Begierden wie Stellung, Amt und Macht. Der Mensch kann in seinen Traumen durchaus mit Zustanden konfrontiert werden, die er nicht wunscht und die er lieber von sich fernhalten wurde. Derartige Wunsche und Begierden liegen ihnen jedoch vollig fern. Wenngleich manche Traume ein Widerschein des Unterbewussten sein konnen – solche Gedanken kommen ihnen nicht einmal im Traum in den Sinn, da diese Erwagungen in ihrem Unterbewusstsein gar nicht vorhanden sind. Es gibt jedoch eine Reihe von Personen, die unschuldige Menschen aus ihrem eigenen Blickwinkel heraus beurteilen, interpretieren und schlieslich unter Zuhilfenahme von allerlei Verleumdungen und Anschwarzungen ihren Weg versperren, da sie nichts anderes im Sinn haben als ebendiese Traume und Sehnsuchte.


[1]Der Autor verwendet an dieser Stelle den Begriff Anadolu insanı. Der Begriff hat einen umfassenden Charakter und schliest alle Burger des Landes ein, unabhangig von ihrer ethnischen Zugehorigkeit und Konfession. 2. Staatliche Gymnasien mit einem schwerpunktmasig religios gepragten Lehrplan, dessen Absolventen uber lange Zeit fast nur an theologischen Fakultaten der Hochschulen Platz finden konnten.

[2] Staatliche Gymnasien mit einem schwerpunktmasig religios gepragten Lehrplan, dessen Absolventen uber lange Zeit fast nur an theologischen Fakultaten der Hochschulen Platz finden konnten.

Die Fontäne, JANUAR–FEBRUAR-MÄRZ 2017

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