Die Vorherbestimmung und der freie Wille des Menschen

Der Mensch verfügt tatsächlich über einen freien Willen. Hier einige Beweise:

Wenn ein Mensch ein Unrecht begangen hat, verspürt er Reue. Er bittet Gott um Vergebung seiner Sünde. Wenn er einen anderen Menschen in Schwierigkeiten gebracht hat, bittet er diesen um Verzeihung. Das zeigt, dass der Mensch selbst darüber entscheidet, was er tun möchte und wie er etwas tun möchte. Besäße er keinen freien Willen, um seine Entscheidungen in die Tat umzusetzen, sondern wäre er gezwungen, eine höhere Macht zu bemühen, würde es doch gar keinen Sinn machen, dass er Reue verspürt und für Sünden und Unrecht um Verzeihung bittet.

Ganz offensichtlich entschließen wir uns dazu, unsere Hände zu bewegen, zu sprechen, aufzustehen oder irgendwohin zu gehen. Uns sind keine Fesseln um den Hals gelegt, die uns zwingen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Wir fühlen uns z.B. frei, in unserer Freizeit ein Buch zu lesen oder uns vor den Fernseher zu setzen. Nichts und niemand, zumindest keine Kraft, die von außen kommt, zwingt uns, zu Gott zu beten. Kein Mensch bewegt sich so, wie es ihm eine Fernbedienung in der Hand einer unsichtbaren Macht befiehlt.

Wir zögern, denken nach, stellen Vergleiche an, beurteilen äußere Umstände, wägen ab und entscheiden, bevor wir schließlich handeln. Wenn wir beispielsweise von zwei Freunden zur gleichen Zeit auf zwei unterschiedliche Feste eingeladen werden oder von ihnen darum gebeten werden, Dinge zu tun, die nicht miteinander vereinbar sind, werden wir zögern und vergleichen, bevor wir uns entscheiden. Für unseren Entscheidungsprozess spielen die Mahnungen des Guten und des Bösen in unserem Innern eine sehr wichtige Rolle.

Wenn uns Unrecht zugefügt wird, können wir vor Gericht ziehen, um den Verantwortlichen zu verklagen. Weder wir noch das Gericht schreiben das Unrecht, das wir erleiden mussten, einer höheren Macht wie dem Schicksal zu. Auch der Angeklagte wird wohl kaum auf die Idee kommen zu versuchen, seine Schuld auf diese Macht abzuwälzen. Die rechtschaffenen und die schlechten Menschen, diejenigen, die hohe Ränge in der Gesellschaft bekleiden, und diejenigen, die ihre Zeit sinnlos vergeuden, jene, die für ihre guten Taten und Erfolge belohnt werden, und jene, die für ihre Verbrechen bestraft werden - sie alle beweisen, dass der Mensch über einen freien Willen verfügt und nicht gezwungen ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln.

Nur geisteskranke Menschen sind nicht für ihre Taten verantwortlich. Die Vernunft und andere geistige Fähigkeiten verlangen einfach danach, dass der Mensch in seinen Entscheidungen und Handlungen frei ist und führen dies auch eindrucksvoll vor. Ohne die Existenz eines freien Willens wären sowohl die Vernunft als auch andere geistige Fähigkeiten überflüssig.

Tiere besitzen keine Willenskraft. Sie werden von Gott instruiert. Die Weisungen Gottes für sie nennt die materialistische Wissenschaft Instinkte. Eine Biene z.B. baut immer sechseckige Waben. Da ihr die Willenskraft fehlt, sich für eine bestimmte Form von Waben zu entscheiden, wird sie niemals versuchen, dreieckige Waben zu bauen. Menschen hingegen entscheiden stets zwischen verschiedenen Möglichkeiten, bevor sie etwas tun. Außerdem steht es uns frei, unsere Meinung zu ändern. Oft ändern wir unsere Meinung in Notfällen oder dann, wenn neue und bessere Vorschläge auf den Tisch kommen. Auch dies spricht dafür, dass der Mensch einen freien Willen hat.

Die Beschaffenheit des freien Willens des Menschen

Der freie Wille des Menschen besitzt keine äußere materielle Form wie z.B. die einzelnen Körperteile. Die Tatsache, dass etwas keine sichtbare materielle Form besitzt, bedeutet jedoch nicht, dass es nicht existiert. Jeder Mensch hat zwei Augen. Daneben steht uns aber ein drittes Auge zur Verfügung, mit dem wir ebenfalls sehen können. Mit den ersten beiden Augen können wir die Dinge in der äußeren materiellen Welt betrachten. Unser drittes Auge hingegen gestattet uns einen Blick hinter die Ereignisse und die physische Welt. Es ist der freie Wille, den wir auch Einsicht nennen können. Dieser freie Wille ist quasi eine spezielle Neigung oder eine innere Kraft, mit deren Hilfe wir etwas bevorzugen und entscheiden.

Der Mensch will, und Gott erschafft. Das Projekt oder der Plan eines Bauwerks hat keinerlei Wert oder Nutzen, solange dieses Bauwerk nicht ihm entsprechend gebaut wird. Zwar ist es das Bauwerk, was sichtbar wird und dem Menschen dient, nichtsdestotrotz liegen ihm bestimmte Pläne zu Grunde. Der freie Wille des Menschen ist gleichsam eine Art Plan, auf dessen Grundlage der Mensch entscheidet und handelt. Gott schließlich erschafft die Handlungen des Menschen. Etwas zu erschaffen und etwas zu tun sind zwei grundverschiedene Dinge. Gott erschafft, das bedeutet: Gott schenkt den Entscheidungen und Handlungen des Menschen eine reelle Existenz in der physischen Welt. Ohne diese Mithilfe Gottes, wäre der Mensch nicht im Stande, auch nur irgendetwas zu tun.

Auch die Rolle des freien Willens und der Handlungsfreiheit des Menschen sowie der Rechtleitung und der Schöpfung Gottes lässt sich anhand einer Analogie beschreiben:

Wenn wir einen riesigen Palast ausleuchten wollen, müssen wir ein Lichtsystem installieren. Doch auch nachdem wir dieses angebracht haben, geht kein Weg daran vorbei, den Lichtschalter zu betätigen. Denn sonst werden die Glühbirnen nicht brennen, und der Palast wird trotz des aufwändigen Lichtsystems dunkel bleiben.

Der Mensch ist gewissermaßen ein großartiger Palast Gottes, der durch den Glauben an Gott erstrahlt. Gott hat den Menschen mit dem notwendigen Lichtsystem ausgestattet. Er hat ihm einen Verstand, die Kraft zu denken und zu fühlen wie auch die Fähigkeit zu lernen, zu vergleichen und bestimmte Dinge anderen vorzuziehen, gegeben. Die Natur, die Ereignisse und die von Gott offenbarte Religion sind die Stromquellen, die die Macht besitzen, Gottes Palast - den Menschen - erstrahlen zu lassen. Doch damit es dazu kommt, muss der Mensch seinen freien Willen einsetzen und den Lichtschalter betätigen. Wenn er dies tut, bittet er Gott damit, ihn mit dem Glauben zu erleuchten. So wie ein Diener an die Tür seines Herrn klopft, sollte der Mensch den Herrn des Universums darum bitten, ihn zu erleuchten und zu einem ‚König' des Universums zu machen. Dann wird Gott Sich ihm gegenüber korrekt verhalten und ihn in den Rang eines Königs über die übrigen Sphären der Schöpfung erheben.

In Seiner Behandlung des Menschen berücksichtigt Gott den freien Willen des Menschen und nimmt diesen zum Anlass, die Taten des Menschen zu erschaffen. Der Mensch ist also nicht, wie manche vermuten, ein Opfer des Schicksals oder jemand, dem das Schicksal übel mitspielt. Egal wie unbedeutend der freie Wille auch erscheinen mag, und verglichen mit den schöpferischen Werken Gottes ist er in der Tat belanglos: Er ist für die Taten des Menschen verantwortlich. Gott erschafft riesige Körper aus den winzigsten Teilchen und greift auf äußerst anspruchslose Hilfsmittel zurück, um äußerst bedeutende Resultate hervorzubringen. Aus einem winzigen Samenkorn kreiert Er beispielsweise eine Pinie, und die Vorlieben und Entscheidungen des Menschen resultieren im Jenseits in ewiger Glückseligkeit oder in ewiger Bestrafung.

Um den Anteil des Menschen und der menschlichen Willenskraft an seinen Handlungen und Leistungen besser einschätzen zu können, brauchen wir uns nur die einmal Nahrung, die ihn am Leben erhält, näher anzuschauen. Ohne die Erde, das Wasser, die Luft und die Wärme der Sonne, die der Mensch nicht selbst herstellen kann, ist er nicht in der Lage, auch nur einen Bissen seiner Nahrung zu produzieren. Die ganze Menschheit schafft es ohne Unterstützung nicht, auch nur ein einziges Körnchen Getreide hervorzubringen. Außerdem ist es keineswegs die Menschheit selbst, die den einzelnen Menschen mit einem Verstand, anderen geistigen Fähigkeiten und der Macht, Getreide zu züchten, ausstattet. Es war nicht der Mensch selbst, der seinen Körper erschaffen und eine Beziehung zwischen diesem und seiner Nahrung geknüpft hat. Auch der Körper mit all seinen Gliedmaßen, Organen und Zellen steht nicht unter der Kontrolle oder Aufsicht des Menschen. Müsste der Mensch sein Herz jeden Morgen zu einer vorgegebenen Zeit wie einen Wecker ‚stellen', würde er wohl kaum lange überleben. Fast alle Bestandteile des Universums, das einem hoch entwickelten Organismus - so kompliziert und doch so harmonisch - gleicht, müssen auf erstaunlichste Art und Weise miteinander kooperieren, damit auch nur ein einziger Bissen an Nahrung produziert werden kann. Dieser eine Bissen ist daher fast genauso wertvoll wie das gesamte Universum. Der Mensch kann den Preis dieses Bissens jedenfalls nicht bezahlen, denn sein Beitrag zu seiner Produktion ist absolut unerheblich.

Sind wir überhaupt in der Lage, Gott auch nur für einen einzigen Bissen Nahrung gebührend zu danken? Wäre die ganze Menschheit wirklich dazu fähig, eine Weintraube aus eigener Kraft hervorzubringen, selbst wenn alle Menschen gemeinsam an diesem Projekt mitarbeiten würden? Gott versorgt uns mit all Seinen Gunstbeweisen, ohne viel dafür zu verlangen. Hätte er uns z.B. dazu verpflichtet, für ein Scheffel Weizen 1000 Niederwerfungen (Rak'at, sing.: Rak'a) zu leisten, hätten wir uns dieser Anordnung mit Sicherheit fügen müssen, um nicht zu verhungern. Hätte Gott für jeden Regentropfen eine Niederwerfung verlangt, wären wir tagein tagaus wohl mit nichts anderem als mit Beten beschäftigt. Stellen wir uns doch einmal vor, einen Tag in sengender Hitze in der Wüste zu verbringen - Würden wir nicht buchstäblich alles tun, nur um ein Glas Wasser zu bekommen?

Wie aber soll es uns erst gelingen, Gott für unsere Gliedmaßen angemessen zu danken? Erst wenn wir uns die kranken und verkrüppelten Menschen in den Krankenhäusern anschauen oder selbst krank sind, wird uns bewusst, wie wertvoll unsere Gesundheit ist. Ist es nicht sogar ganz und gar unmöglich, Gott angemessen für unsere Gesundheit zu danken? Die Anbetung, die Gott uns auferlegt, ist in Wirklichkeit nur zu unserem Besten. Sie dient unserer spirituellen Weiterentwicklung und fördert unser Privatleben genauso wie das Leben in der Gesellschaft. Wenn wir an Gott glauben und Ihn anbeten, wird Er uns im Paradies mit uneingeschränkter Glückseligkeit und unendlich vielen Gunstbeweisen belohnen.

Wir sehen also, dass uns fast alles, was wir besitzen, ohne Gegenleistung geschenkt wurde. Unser Anteil an den Gunstbeweisen, die wir in der Welt genießen dürfen, ist unbedeutend. Auch unsere Willenskraft ist, verglichen mit den Wirkungen, die Gott als Folge unserer Inanspruchnahme dieses Willens erschafft, relativ schwach. Doch wie schwach unser Wille auch sein mag und wie schwer dessen wahre Natur auch zu verstehen ist - Gott erschafft unsere Handlungen gemäß der Wahl und den Entscheidungen, die wir durch unsere Willenskraft treffen.

Die Vorherbestimmung Gottes und freier Wille des Menschen ergänzen einander

Schon immer fiel es der Menschheit schwer, den Willen Gottes vom freien Willen des Menschen zu unterscheiden und beide miteinander in Einklang zu bringen. Einige gingen sogar so weit, dass sie dem Menschen jeden freien Willen, zu handeln und über das eigene Leben zu verfügen, absprachen. Andere wiederum haben dem Menschen selbst die Erschaffung seiner Taten zugeschrieben und die Rolle der Vorherbestimmung für sein Leben vollständig ignoriert. Der Islam hingegen beschreitet den Mittelweg. Auch zu jedem anderen Thema, das mit der Vorherbestimmung und dem freien Willen des Menschen zu tun hat, folgt der Islam diesem Weg. Die Vorherbestimmung Gottes beherrscht also das gesamte Sein einschließlich der Sphäre des Menschen. Trotzdem besitzt der Mensch einen freien Willen, mit dessen Hilfe er sein Leben führt.

In drei aufeinander folgenden Versen am Ende der Sure At-Taqwir bringt der Koran die wahre Beschaffenheit der Beziehung zwischen Vorherbestimmung und freiem Willen zum Ausdruck:

Dies ist ja nur eine Ermahnung für alle Welten. Für denjenigen unter euch, der aufrichtig sein will. Und ihr werdet nicht wollen, es sei denn, dass Allah will, der Herr der Welten. (81:27-29)

Diese Verse unterstellen dem Allmächtigen einen absoluten Willen, ohne aber dem Menschen eine Willenskraft abzusprechen, mit der er sein Leben lenkt und gestaltet. In einem anderen Vers (37:96) erklärt der Koran, dass Gott es ist, der den Menschen und das, was er hervorbringt, erschaffen hat. Deshalb bezeichnet er Gott als den einzigen Schöpfer. In weiteren Versen wie ...erfüllt euer Versprechen Mir gegenüber, so erfülle Ich Mein Versprechen euch gegenüber (2:40), ...wenn ihr Allahs (Sache) helft, so wird Er euch helfen und euren Füßen festen Halt geben (47:7) und Gewiss, Allah ändert die Lage eines Volkes nicht, ehe sie (die Leute) nicht selbst das ändern, was in ihren Herzen ist (13:11) spricht der Koran von einem Vertrag bzw. einem Versprechen von Gott an den Menschen und erklärt offenkundig, dass der Mensch seine Geschicke selbst lenkt.

Mit Ausnahme der Sphäre der Menschen und der Dschinn, die einen freien Willen besitzen und deshalb für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können, ist die Vorherbestimmung Gottes die einzige absolute und ausschließliche Kraft. Folgende Erklärungsversuche werden vielleicht dazu beitragen, die Vorherbestimmung Gottes und den freien Willen des Menschen miteinander zu versöhnen:

  • Die Vorherbestimmung ist ein ‚Titel' des Wissens Gottes. Dieses Wissen Gottes umfasst alles, was sich innerhalb und außerhalb von Raum und Zeit befindet. Wenn wir wissen, dass ein bestimmtes Ereignis zu einer bestimmten Zeit in der Zukunft eintreten wird, und dieses Ereignis tritt dann wirklich zur von uns prognostizierten Zeit ein, dann heißt dies noch lange nicht, dass dieses Ereignis eintrat, weil wir im Voraus wussten, dass es eintreten würde. Da das Wissen Gottes alle Gegenstände und alle Ereignisse im Universum umfasst, hat Er auch festgelegt, dass ein bestimmtes Ereignis zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eintreten wird; und so wird es dann auch geschehen. Der Grund dafür, dass auch nicht der kleinste Unterschied zwischen dem besteht, was Gott dem Menschen bestimmt hat, und dem, was der Mensch tut, besteht nicht darin, dass die Maßgabe Gottes den Menschen zwänge, entsprechend zu handeln, sondern darin, dass der Mensch so handeln will und letztendlich tatsächlich auch so handelt.

Ein Beispiel: Ein Zug, der auf der Strecke Istanbul-Ankara verkehrt, fährt mit der Geschwindigkeit, die sein Fabrikat und der Zustand der Schienen zulassen. Die Entfernung von Istanbul nach Ankara ist bekannt. Weiterhin weiß man, dass der Zug unterwegs an einer bestimmten Anzahl von Stationen für eine bestimmte Zeit anhalten muss. Da man mit all diesen Variablen planen kann, ist es möglich, einen Fahrplan zu erstellen. Es wäre aber unsinnig zu behaupten, dass das Vorhandensein eines Fahrplans das Fahren der Züge bewirkt.

Ein weiteres Beispiel: Zeitpunkt und Dauer von zukünftigen Ereignissen am Firmament wie Sonnen- und Mondfinsternissen sind uns schon lange im Voraus bekannt, weil sie sich durch astronomische Berechnungen ermitteln lassen. Auch in diesem Fall verdunkeln sich Sonne und Mond jedoch keineswegs deshalb, weil die Astronomen dies so ausgerechnet und aufgezeichnet haben. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall: Die Astronomen wissen, wann Sonne und Mond sich verdunkeln werden und halten ihre Erkenntnisse deshalb schriftlich fest. Vorherbestimmung und freier Wille stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander.

  • Der freie Wille des Menschen ist nichts, was von der Vorherbestimmung ausgeschlossen ist. Vielmehr umfasst die Vorherbestimmung den freien Willen. Auch hier ein Beispiel: Wenn uns jemand fragt, ob die Uhr im Nebenraum funktioniert und wir sie ticken hören, werden wir ihm mit "Ja" antworten. Der Fragesteller braucht nun nicht mehr weiter zu fragen, ob sich denn die Zeiger auch wirklich bewegen. Denn wenn die Uhr funktioniert, drehen sich automatisch auch ihre Zahnräder, und die Zeiger bewegen sich. Analog wirken auch die Vorherbestimmung und der freie Wille des Menschen nicht unabhängig voneinander. In Relation zur Vorherbestimmung ist der freie Wille weder ein trockenes Blatt, das in ihrem Wind weht, noch ist er vollkommenen unabhängig von ihr. So wie der Islam in allen Dingen einen Mittelweg einschlägt, hat er diesen auch in Bezug auf Vorherbestimmung und freien Willen gewählt. Mit anderen Worten: Der Islam hat die wahre Relation zwischen Vorherbestimmung und freiem Willen definiert. Ihm zufolge will und tut der Mensch etwas, woraufhin Gott es dann erschafft.
  • Ursache und Wirkung sind vom Standpunkt der Vorherbestimmung aus betrachtet untrennbar. Vorherbestimmung bedeutet also, dass diese Ursache jene Wirkung hervorbringen wird. Gleichzeitig wäre es falsch zu behaupten, der Mord an einem Menschen sei kein Verbrechen, da dem Ermordeten zu jener Zeit sowieso der Tod bestimmt war und er infolgedessen zu jenem Zeitpunkt ohnehin gestorben wäre. Dieses Argument wäre haltlos, denn tatsächlich gehört zum Schicksal dieses Mannes nicht nur zu sterben, sondern auch erschossen zu werden. Wenn wir nun also behaupten, er wäre selbst dann gestorben, wenn er nicht erschossen worden wäre, können wir nicht sagen, auf welche Weise der Tod dann eingetreten wäre. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es nicht zwei Arten von Vorherbestimmung (eine für die Ursache und die andere für die Wirkung) gibt. Es gibt nur eine einzige Vorherbestimmung.
  • Der Mensch neigt dazu anzunehmen, er selbst unterliege nicht dem Lauf der Zeit. Er glaubt, dass die Vergangenheit, die für ihn eine Kette von Ereignissen darstellt, beschränkt ist und nennt sie Azal (Ewigkeit in der Vergangenheit). Diese Annahme ist jedoch weder wahr noch akzeptabel. Auch dieser heikle Punkt wird uns vielleicht durch ein Beispiel verständlicher:

Man stelle sich einmal vor, einen Spiegel in der Hand zu halten, der auf seiner rechten Seite all das reflektiert, was die Vergangenheit darstellt, während seine linke Seite die Zukunft reflektiert. Solange man dasteht und den Spiegel in der Hand hält, kann immer nur eine Seite widergespiegelt werden; gleichzeitig beide Seiten zu zeigen, ist nicht möglich. Will man trotzdem beide Seiten gleichzeitig reflektieren lassen, muss man sich über seine ursprüngliche Position erheben, sodass rechte und linke Seite miteinander vereint werden und nichts mehr bleibt, was das Erste oder das Letzte bzw. Anfang oder Ende genannt werden könnte. Wie bereits erwähnt wurde, sind Vorherbestimmung und Wissen Gottes in einigen Punkten identisch. In einem Ausspruch des Propheten wird die Vorherbestimmung beschrieben als das Verschmelzen aller Zeiten und Ereignisse in einem einzigen Punkt, in dem das Erste und das Letzte, der Anfang und das Ende sowie das, was geschehen ist, und das, was noch geschehen wird, vereint sind. Auch wir Menschen können uns dem nicht entziehen. Daher können unsere Erkenntnisse über die Zeit und die Ereignisse ebenfalls als ein Spiegel für den Zeitraum der Vergangenheit fungieren.

  • Der Mensch kann nicht Schöpfer seiner Handlungen sein. Denn würde er seine eigenen Handlungen erschaffen, wäre er deren letzte Ursache, und sein freier Wille würde nicht weiter existieren. Die Logik besagt, dass ein Ding, das nicht notwendig ist, auch nicht existieren wird. Damit etwas eine Existenz erhält, muss eine wirklich vollwertige Ursache vorliegen. Doch wenn diese vollwertige Ursache tatsächlich vorliegt, bleibt für eine freie Wahl kein Platz mehr.
  • Obwohl der freie Wille des Menschen zu schwach ist, um zu bewirken, dass etwas geschieht, hat der Allmächtige dessen Einsatz zu einer Grundvoraussetzung dafür gemacht, dass Sein universeller Wille wirksam wird. Er führt den Menschen in die Richtung, für die sich der Mensch durch den Einsatz seines freien Willens entscheidet. Daher bleibt der Mensch für die Konsequenzen seiner Entscheidungen verantwortlich. Ein Beispiel: Man nimmt ein Kind auf die Schultern und lässt ihm die freie Wahl, wohin es gerne getragen werden möchte. Es entscheidet sich nun dafür, auf einen hohen Berg getragen zu werden, wo es sich eine Erkältung zuzieht. In diesem Fall hat das Kind kein Recht, uns Vorwürfe zu machen. Man könnte es sogar noch bestrafen, denn es wollte ja schließlich unbedingt auf den Berg hinauf. Auch Gott, der Allmächtige, der Gerechteste aller Richter, zwingt Seine Diener niemals dazu, etwas zu tun. Gottes Wille basiert in gewisser Hinsicht auf dem freien Willen des Menschen.

Zusammenfassend lassen sich sieben Punkte festhalten

  1. Die Vorherbestimmung Gottes, die wir auch als Entscheidung und Gestaltung Gottes bezeichnen können, umspannt zwar das ganze Universum, beraubt den Menschen aber nicht seines freien Willens.
  2. Da Gott außerhalb von Raum und Zeit steht und weil Sein Wissen alles einschließt, vereinigt Er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem einzigen unteilbaren Punkt. Zum besseren Verständnis dieses Punktes möchte ich einen weiteren Vergleich anführen:
  3. Solange wir uns in einem Raum befinden, ist unser Blick auf diesen Raum beschränkt. Wenn wir aber einen Ort aufsuchen, der hoch genug liegt, können wir von dort aus die ganze Stadt, in der wir leben, überblicken. Je höher wir uns hinauf begeben, desto größer wird unser Blickfeld. Vom Mond aus würde uns die Erde nur so groß wie eine blaue Murmel erscheinen. Mit Zeit und Raum verhält es sich genauso. Die gesamte Zeit und der ganze Raum bedeuten für Gott nichts weiter als einen einzigen unteilbaren Punkt, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen.
  4. Da Zeit und Raum im Wissen Gottes als ein einziger Punkt existieren, hat Gott alles, was sich bis zum Jüngsten Tage ereignen wird, schon im Voraus aufgezeichnet. Engel bedienen sich dieses umfangreichen ‚Protokolls' und legen für jeden einzelnen Menschen ein eigenes kleines Protokoll an.
  5. Was wir tun, tun wir nicht deshalb, weil Gott aufgezeichnet hat, was wir tun sollen. Vielmehr zeichnet Er unsere Taten auf, weil er im Voraus weiß, was wir tun werden.
  6. Es gibt keine zwei unterschiedlichen Arten von Vorherbestimmung (eine für die Ursache, die andere für die Wirkung). Eine einzige Vorherbestimmung bezieht sich gleichzeitig auf Ursache und Wirkung. Der freie Wille des Menschen als Ursache der Handlungen des Menschen ist Bestandteil der Vorherbestimmung.
  7. Gott leitet uns zu guten Dingen und Taten an. Er erlaubt und rät uns, unsere Willenskraft einzusetzen, um gute Taten zu vollbringen. Im Gegenzug verspricht Er uns ewige Glückseligkeit im Paradies.
  8. Der Mensch verfügt über einen freien Willen. Dieser leistet zwar nur einen sehr kleinen Beitrag zu seinen guten Taten, kann anderseits aber überall dort, wo er eingesetzt wird, tödliche Sünden und Zerstörung hervorrufen. Der Mensch sollte seine Willenskraft also zu seinem eigenen Vorteil nutzen und regelmäßig zu Gott beten, um die Gunstbeweise des Paradieses, das eine Frucht der guten Taten ist, genießen und die ewige Glückseligkeit erlangen zu können. Der Mensch sollte Gott außerdem immer wieder um Vergebung seiner Sünden bitten. Er sollte von bösen Taten Abstand nehmen und sich so vor den Qualen der Hölle, die eine Frucht der schlechten Taten ist, schützen. Das Gebet und das Vertrauen auf Gott stärken die Neigung zum Guten, während Reue und das Bitten um Vergebung die Neigung zum Bösen und zu Übertretungen schwächen.
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